
In ihrer Inszenierung der Oper „Matsukaze“ setzt die Regisseurin Lotte van den Berg dem Publikum die Kunst dirket vor die Nase. In einer rohen, verletzlichen Form. Wie großartig.
Von Merle Zils
Ein halbnackter, untersetzter Mann (Thomas Schmauser) bleibt vor einem groß gewachsenen muskulösen Tänzer (Corey Scott-Gilbert) stehen. Sie befinden sich inmitten des Orchesters. Vor ihnen die Harfe, hinter ihnen die Pauken. Das Orchester hatte sich zuvor im Raum eingespielt, wie ein kleiner Vorgeschmack auf den vollen Klang, den sie gleich bieten würden, stimmten Klarinetten an und Streicher ein. Gegenüberstehend taten es ihnen die Bläser gleich, kosteten den Klang des riesigen Raumes aus, bevor sie sich zu ihren Plätzen begaben. Wie ein Puzzle setzen sich Orchester und Chor zusammen, jeder Mensch hat seinen Platz, alle fügen sich zum vollständigen Klangbild. Zuletzt tastet sich der Dirigent (Alexandre Bloch) vorsichtig an sein Pult heran.
In der installativen Inszenierung der Bayerischen Staatsoper von Toshio Hosokawas „Matsukaze“ ist man nah dran. Kann sich direkt neben das Schlagwerk stellen – die Vibration spüren – oder hinter die Trompeter – beobachten, wie sie die Ventildrücker senken – und ihre Notizen in der Partitur lesen: „laut“ steht an einer Stelle, an anderen sind es Zahlen, Hervorhebungen, Trennstriche. Denn anstatt in einem Theater befinden wir uns im Utopia. In dieser Halle gibt es keinen Orchestergraben, kein Parkett oder Ränge, nicht mal eine Bühne. Oder ist alles Bühne?
Die Inszenierung von Lotte van den Berg arbeitet mit einer doppelten Besetzung der Rollen auf musikalischer und visueller Ebene. Jeweils eine singende und eine tanzende Person verkörpern dieselbe Figur. Sie bewegen sich durch den Raum, immer in Bewegung. Interaktion zwischen ihnen findet lediglich mit Blicken statt, die Tänzer wie ferngesteuert durch die Macht der Singenden. Nur einer hat keine Stimme: der Halbnackte. Er läuft verloren durch den Raum, das passt, denn seine Figur ist in der Geschichte nicht anwesend. Das Libretto von Hannah Dübgen steht allerdings im Hintergrund, das ist auch gar nicht schlimm. Eine kurze Zusammenfassung: Es ist eine klassische dramatische Opern-Geschichte. Zwei Frauen (die Schwestern Matsukaze und Murasame) lieben den selben Mann (der Halbnackte), der verschwindet und eventuell tot ist – tot unglücklich sind deshalb die Frauen. Dann kommt ein neuer Mann (der ein Baum sein soll) und rettet sie aus ihrem Leid. Und das alles träumt ein Mönch. Statt sich auf diesen aus der Zeit gefallenen Plot – er basiert auf einem Nō-Theaterstück aus dem 15. Jahrhundert – zu fokussieren, hat sich Lotte van den Berg in ihrer Produktion für eine bessere Methode entschieden: Die Kunst, in ihrer rohsten, verletzlichen Form steht im Vordergrund, angreifbar gemacht durch ein Publikum, das ihr direkt vor der Nase steht.
Dabei vermischen sich natürliche Elemente mit einem Industrie-Charakter: Eine durch den Raum reisende Sonnen-Lampe, Becken mit Salz und Wasser sowie Bläser, die mit wenigen Zentimetern Abstand tonlos in ihre Mundstücke pusten und rauschenden Wind erzeugen. Diese Ursprünglichkeit steht im Kontrast zu den meterhohen Stahlkonstruktionen. Riesige Spiegel verwirren dazu die Betrachter. Welchem Bild kann man trauen, sieht man gerade hindurch, oder doch in den Spiegel? Es gibt kein Entkommen vor ihnen, sie mahnen zur Vorsicht beim Bewegen durch den Raum oder die Welt.
Und so tun es auch die Besucher:innen: Mal drehen sie sich auf der Stelle, auf der Suche nach dem nächsten Element, das sie beobachten wollen, oder bewegen sich wie angezogen von den Darstellenden. In Trauben wabern sie von links nach rechts, immer dahin, wo das Geschehen ist, wie Motten zum Licht. Manchmal stehen sie direkt neben den Darstellenden, höchstens einen halben Meter entfernt.
Die Tänzer:innen bewegen sich verkrampft, mit gespreizten Fingern, verbogenen Rücken, überstreckten Brustkörben. Jede winzige Bewegung wird minuziös und bedacht ausgeführt, quälend langsam. Eine beeindruckend mitreißende Leistung. Die zwei Schwestern (Yumiko Yoshioka, Yuko Kaseki) sind sofort als diese zu identifizieren: kleine, zierliche Personen, die vor allem aber durch ihre ähnliche Haltung auffallen. Sie sind zerbrechlich, verängstigt und dennoch fängt eine die andere immer wieder auf, wenn diese zusammenbricht. Der muskulöse Baum-Mann hat eine ehrfurchtgebietende, fast unheimliche Präsenz. Er zieht seine Kreise, mit starrem Blick. Schleift einen schweren Umhang über den Boden. Eine Erscheinung wie aus einer uralten Geschichte.
Musikalisch bewegt sich „Matsukaze“ von still daher schwappenden Momenten, die wie die Ruhe vor dem Sturm mehr nervös machen als besänftigen, bis hin zu wilden, lauten Momenten, die sich wie unbändig getriebenen zu dramatischen Höhepunkten aufbrausen. Von klingelnden Glöckchen zu wie aus Hitchcocks „Psycho“ kreischenden Geigen.
Intuitiv ergeben sich viele Wörter für die Stimmung, die Tanz und Musik hier zeichnen: mysteriös, bedrohlich, animalisch, archaisch, quälend, erlösend. Auch wenn sich an das originale Libretto gehalten wurde und sich hier die Frage stellt, warum Frauen in der Oper eigentlich immer zerbrechliche Geschöpfe sein müssen, die unter Männern leiden, so ist „Matsukaze“ vor allem beeindruckend in seiner Form.
Alle befinden sich auf einer Ebene: Das in der Mitte angeordnete Orchester, drumherum die Geschichte und das Publikum. Alle haben hier den selben Preis bezahlt, haben dieselbe Sicht anstatt einer Aufrechterhaltung von Klassengesellschaft in traditionellen Opernhäusern, in denen, wer weniger zahlt, in der Hitze unterm Dach sitzt und wenig sehen kann. Und so erscheint auch das Publikum an diesem Abend deutlich diverser als bei anderen Produktionen. Das nennt man dann wohl Zugänglichkeit schaffen.