
Die Künstler und das Publikum teilen sich die Bühne in „Matsukaze“ an der Bayerischen Staatsoper. Aber nicht nur deshalb ist die Inszenierung ein eindringlich intensiver Abend.
Von Rike Ohlerich
Siri, spiel das ASMR-Video „Immersive Oper mit meditativen Klängen“ ab! Wenn man die Oper „Matsukaze“ im Utopia in München in einem kurzen Satz beschreiben müsste, dann am ehesten so. „Matsukaze“, eine Bearbeitung eines japanischen Nō-Theaterstücks aus dem 15. Jahrhundert, komponiert von Toshio Hosokawa, erzählt auf den Punkt von dem Gefühl von Liebeskummer und unerfüllter Sehnsucht. In der Inszenierung von Lotte van den Berg taucht das Publikum in die Traumwelt eines Mönchs ein, in der zwei Schwestern jahrhundertelang ihrem verschwundenen Geliebten nachtrauern.
Die Kiefer. Die Kiefer am Strand. Sie weht im Wind. In diesem Stück ist sie ein immer wiederkehrendes Motiv. Aber was kann sie bedeuten? Ein Mönch auf Pilgerreise trifft auf diese Kiefer am Strand, in deren Stamm die Namen Matsukaze (Wind in den Kiefern) und Murasame (Herbstregen) geritzt sind. Als er erschöpft von der Reise einschläft, findet sich das Publikum in seinem Traum wieder.
Eigentlich beginnt der Traum schon viel früher. Ab dem Moment, in dem man die große, alte Halle betritt, fühlt es sich an, als sei man in einem anderen Universum. Elektronische Klänge breiten sich im Raum aus, kommen einem nahe wie in einem ASMR-Sounddesign, und die Zeit verschwimmt, lange bevor die eigentliche Aufführung beginnt. Die Zuschauenden werden selbst Teil der Inszenierung, denn den ganzen Abend über ist es erlaubt, sich in dem Raum zu bewegen, sogar erwünscht. Die Handlung, die hauptsächlich in dieser Traumwelt des Mönchs stattfindet, gleicht dem Gefühl des Schlafwandelns. Um die komplette Handlung mitzubekommen, müssen die Zuschauenden die Darstellenden verfolgen, und das macht einfach Spaß. Es ist wie ein Katz-und-Maus-Spiel der musikalischen Art, bei dem man für einen Abend mitmachen kann.
Ganz so lustig ist es aber doch nicht, sobald die Darstellenden mit tristen, ernsten Gesichtern auf die Zuschauenden zuschreiten. Eine Strenge, die an die Nō-Vorlage erinnert. Dauernd müssen die Zuschauenden den Darstellenden ausweichen, ihnen folgen oder auch einen immer kreisenden Lichtkegel aus dem Weg gehen. Jede Bewegung wirkt bedacht und präzise durchgeführt, fast maschinell. Vor allem der Tänzer Corey Scott-Gilbert, der den Geliebten Yukihira verkörpert, fasziniert mit abgehackten und dennoch fließenden Bewegungen, die er mit einer Körperspannung ausführt, die nicht von dieser Welt scheint. Aus einem anderen Universum eben.
Nicht nur Scott-Gilbert überzeugt, auch die beiden Schwestern, Matsukaze (Yumiko Yoshioka) und Murasame (Yuko Kaseki), die den ganzen Abend über die „Bühne“ gehen, rennen, stolpern und sich gegenseitig stützen. Besonders die immerzu ernste und leidende Mimik lässt mitfühlen. Die beiden Schwestern haben ihren (gemeinsamen?) Liebhaber Yukihira verloren, der eines Tages in die Stadt geht, nicht mehr wieder kommt und dort stirbt. Sie warten trotzdem immer weiter auf seine Rückkehr, immer weiter in ihrem Leid zerfließend. Als der Mönch ihnen erklärt, dass es eine Sünde sei, so lange an einem Menschen festzuhalten trotz des Wissens um die Unmöglichkeit einer Rückkehr, verändern sie sich. Während Murasame den Mönch darum bittet, sie von ihrem Leid und ihrer Sünde freizusprechen, verfällt Matsukaze in eine Art Wahnsinn und sieht Yukihira als Kiefer am Strand. In einem exzentrischen und aufbäumenden Tanz liefern sich die beiden nahezu ein Duell, in dem Matsukaze versucht, ihre Schwester mit ihr in den Wahnsinn zu ziehen. Als die beiden dann gemeinsam still unter einer Decke, verziert mit Ästen der Kiefer, verweilen, denkt man vorerst, sie seien nun auch gestorben. Als die beiden sich zu einer letzten Interaktion mit dem Mönch aufraffen, auf die eine Art Taufe folgt, wirken sie jedoch lebendiger denn je.
Der Abend ist geprägt von der vielfältigen Nutzung der Instrumente, jede Figur wird gesanglich und tänzerisch verkörpert. Genau das lässt die Zuschauenden, parallel zu den Bewegungen, die sprachliche und emotionale Ebene der Tänzer*innen und Sänger*innen nachempfinden. Das Orchester katapultiert das Publikum noch einmal mehr in eine andere Welt. Verträumte Harfenklänge, Trommeln und fließende Geigen. Einer der vielen aufregenden Momente des Abends wird durch einen sanften Windstoß ausgelöst, der allein durch das tonlose Pusten der Musiker*innen in die Blechblasinstrumente produziert wird.
Aufgrund der Bewegungen und Dynamik werden die Zuschauenden unmittelbar mitgerissen, es fühlt sich so an, als wäre man in das Stück integriert, während man durch das Orchester in der Mitte des Raumes hindurchschlendert. Genau das macht „Matsukaze“ zu einer emotional greifbaren sowie aufwühlenden Inszenierung, die man auch (liebevoll) als ASMR-Oper-Performance betiteln könnte. Am Ende bleibt eins zurück: Das Gefühl von unerfüllter und blinder Liebe, die die Schwestern langsam aber sicher innerlich zerfallen lässt.