
Berlinale: Wie viel Sanftmut erlaubt uns die Welt? Léonor Serrailles Film „Ari“, der im Wettbewerb läuft, erzählt von einem Mann, der nicht kämpft, sondern fühlt – und daran fast zerbricht.
Von Sophie Gartmann
Léonor Serrailles dritter Langfilm erinnert in seiner Erzählweise an die Ästhetik der Nouvelle Vague und bietet eine Charakterstudie, deren Titel den Namen des Protagonisten trägt: Ari. Ein Mann Ende 20, einst von seiner verstorbenen Mutter in seiner ganzen Sanftheit gesehen. Der Film stellt einen zärtlichen und weichen Mann ins Zentrum. Die ersten Szenen zeigen Rückblenden – Ari als Kind mit seiner Mutter. Nahaufnahmen ihrer Augen, seines Kindergesichts. Ihre Stimme und ihre Worte sind ganz sanft. Hier wird die Schönheit, aber auch die Schwermut des Films geboren. Heute ist Ari Halbwaise, er arbeitet als Referendar an einer Grundschule und lebt bei seinem Vater. Dieser wirft Ari raus, nachdem dieser aufgrund eines Nervenzusammenbruchs im Unterricht entscheidet, seinen Job zu kündigen.
Ein Generationenkonflikt zeichnet sich ab: Hier der Vater, geprägt von harter Arbeit und dem Glauben, dass Leistung und Durchhalten das Leben ordnen, und dort Ari, stellvertretend für die Generation Y: überfordert vom Druck und verloren in einem System mit unsicherer Zukunft. Doch was die beiden verbindet, sind letztlich dieselben Existenzängste, denn Ari ist Arbeiterkind. Serraille erzählt diese Szene nicht als klassischen Vater-Sohn-Konflikt, sondern als strukturelles Problem. Hier zeigt sich eine von vielen Reibungsflächen in Aris Leben.
Serrailles Regie überzeugt durch eine zarte, fragmentierte Erzählweise: Handkamera, natürliche Lichtverhältnisse, improvisiert wirkende Dialoge und eine lose strukturierte, fast dokumentarische Form. Besonders die asynchronen Tonmomente schaffen eine subtile Entfremdung, die Aris Zerbrechlichkeit spürbar macht.
Aris Weg führt ihn zu alten Freund*innen – und jede Begegnung wird zum Spiegel sozialer Brüche und gibt Aufschluss über Aris Vergangenheit und zu seiner Ex-Freundin Irene, die von ihm schwanger wurde. Besonders scharf zeichnet der Film eine Szene mit einem alten Freund aus wohlhabendem Elternhaus. Dieser hat alles: Karriere, Frau, Kind – und doch wirkt er unzufrieden. Genau wie schon Aris Vater macht er Vorwürfe. Er urteilt über Aris Leben und behauptet, seine Ex-Freundin Irène hätte das gemeinsame Kind abtreiben müssen, weil Ari nicht in der Lage wäre, Vater zu sein. Eine starre Vorstellung von Männlichkeit, die Aris Naturell kontrastiert. Im Grunde steht dieses Männlichkeitsideal in gewissem Maße im Kontrast zum gesamten Film – besonders in seinem Umgang mit Queerness. Sie ist kein Thema, das betont oder problematisiert wird, sondern selbstverständlich gelebt. Tatsächlich besteht fast der gesamte Film aus Figuren, die queer sind. Hier wird die Sanftmut als Thema des Films wunderschön transportiert.
Andranic Manet liefert als Ari eine nuancierte Performance, die den Film maßgeblich trägt. Seine Darstellung fängt die Rührbarkeit des Protagonisten intensiv ein, ganz ohne Übertreibung. Besonders in den stillen, emotional aufgeladenen Momenten zeigt sich seine Fähigkeit, Unsicherheit, Sehnsucht und Verletzlichkeit allein durch Mimik und Körpersprache greifbar zu machen. Der Film lebt von diesen intimen, oft in Close-ups eingefangenen Momenten und auch das übrige Ensemble überzeugt mit natürlichem Spiel, sodass selbst alltägliche Dialoge Echtheit und emotionale Resonanz entwickeln.
Als Ari gegen Ende des Films schließlich auf seine Exfreundin Irène trifft, ist alles ganz anders, als die Gesellschaft es Ari ausgemalt hatte. Sie hat sich selbstbestimmt dazu entschieden, ihr gemeinsames Kind zu bekommen. Die letzten Szenen zeigen Ari vereint mit seiner zweijährigen Tochter und schlagen damit einen Bogen zu den ersten Szenen des Films und damit zur Mutter von Ari. Ohne Pathos, ohne große Versöhnungsgesten zeigt Serraille, dass zwischen „Vaterwerden“ und „Versagersein“ eine Welt liegt.
Kinder spielen in Ari, als Spiegel der Hauptfigur, eine große Rolle. In einer Szene gesteht er seinem Vater, dass er Angst hat, vor seine Klasse zu treten, weil Kinder „einen durchschauen“. An anderer Stelle betont er, Kinder seien „die einzig normalen Menschen“. Diese Beobachtungen ziehen sich durch den Film: Die kindliche Direktheit und Unvoreingenommenheit konfrontieren ihn immer wieder mit sich selbst und seinen Unsicherheiten.
Akustisch setzt der Film auf eine zurückhaltende, aber kraftvolle Gestaltung. Die Stimmung ist von Alltagsgeräusche, Gesprächsfetzen und Stadtklängen geprägt. Die Musik bleibt dezent, taucht nur an wenigen, dafür wichtigen Stellen auf – manchmal fast zu gezielt. Doch diese Zurückhaltung macht Raum für die Geschichte und verstärkt die melancholisch-introspektive Atmosphäre des Films.
„Ari“ endet also mehr als hoffnungsvoll – eine Wendung, die für einen Arthouse-Film beinahe provokant wirkt. Es ist kein Kitsch, sondern die Erkenntnis, dass das Leben – auch in seiner Unvorhersehbarkeit und gelöst von gängiger Moral – dennoch zu einem absoluten Happy End führen kann. Denn unsere Leben sind ambigue, und für Sanftmut und Liebe ist es nie zu spät.