Wider das Gesetz


Georges (André Jung) ist überfordert von den vielen Annes in seinem Leben und seinem Kopf: „Liebe (Amour)“ an den Münchner Kammerspielen. Foto: Matthias Horn

Schauen wir kollektiv weg, wenn’s hässlich wird? Nicht an den Münchner Kammerspielen, wo Karin Henkel „Liebe (Amour)“ nach Michael Hanekes Film inszeniert.

Von Merle Zils

„[Die] gezielte Herbeiführung des Todes durch eine andere Person. [… ] Wenn dies auf Wunsch des Schwerkranken oder Sterbenden erfolgt, spricht man von Tötung auf Verlangen. Sie ist in Deutschland strafbar.“ So definiert es die Caritas.

Sterbehilfe ist ein polarisierendes, oft emotional beladenes Thema. Wir haben das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, aber was, wenn eine geliebte Person selbst bestimmt, es zu beenden, es aber nicht kann? Dieser Frage widmet sich im Kern die Inszenierung von Michael Hanekes Oscar-prämiertem Film „Liebe“ (2013), die aktuell an den Münchner Kammerspielen läuft.

Es beginnt mit Fakten: „Jede Sekunde sterben auf der Welt zwei Menschen“. Diesen Satz zu lesen dauert circa vier Sekunden, diesen Text etwa 250. Doch hinter jeder dieser Zahlen steckt eine Geschichte. Regisseurin Karin Henkel führt das Publikum in die von Anne und Georges. Ein Jahr im Leben des Paares. Sie leben ein privilegiertes, kultiviertes Leben im Ruhestand. Doch dann erleidet Anne einen Schlaganfall, von dem sie sich nie wieder erholen wird. Im Gegenteil: Es wird immer schlimmer. Und Georges kümmert sich aufopferungsvoll um sie, auch als es ihn selbst kaputt macht.

Dabei wird aus dem realistischen Film ein assoziatives Bühnenstück. Die Zuschauenden blicken aus Georges Perspektive auf das Erlebte. Man fragt sich, ob es so in Georges Kopf aussieht: ein langer, klinisch weißer, auf einen Fluchtpunkt zulaufender Raum. Alles ist Schwarz-Weiß, sogar die Menschen, nur Anne trägt hin und wieder Grün, die Farbe der Hoffnung. Georges sitzt in den ersten Minuten abseits des Geschehens, als blicke er zurück auf seine Erinnerungen und auf alle Versionen von Anne. Er beginnt uns zu erzählen, wie er sie umbringt, wie er sie erstickt, und schließlich tut er es auch: Das Publikum schaut ihren bebenden, in löchrigen Strümpfen steckenden Füßen zu, begleitet von den grausamen Geräuschen ihres Todeskampfes.

Anne, das ist nicht nur eine einzige Schauspielerin. In Georges Kopf gibt es viele Versionen von ihr. Ihren Charakter, wie er sie liebt: grandios verkörpert von Katharina Bach. Eine kindliche, verspielte Anne (Nine Manthei). Ihre Krankheit (Joel Small), ständig anwesend, mit unheimlichen schwarzen Augen, treibt sich mal in irgendeiner Ecke rum, mal tanzt oder zittert sie. Und dazu eine Handvoll älterer, gebrechlich wirkender Laien-Darstellender, die metaphorisch für die vollständige Überforderung stehen, die Georges durch Annes Pflege erlebt. Dauernd schreien sie um Hilfe. Es ist ein bemerkenswerter und zentraler Aspekt der Inszenierung, der Georges’ und Annes Verhältnis auf vielen Ebenen durchscheinen lässt.

Zwei Erzähler (Christian Löber und Joyce Sanhá) führen uns immer wieder durch die Geschichte. Mal fassen sie zusammen, mal malen sie ein Fenster an die weiße Wand oder versuchen schwarze Gedanken, die in Form von Farbe durch das mit Folie provisorische abgedeckte Loch in der Decke hineinlaufen, aufzuhalten. Bis irgendwann der ganze Dreck über ihnen hereinbricht. Ab und zu wedeln sie auch mit roten Fähnchen, die eine Abweichung des Stückes zum ursprünglichen Drehbuch signalisieren sollen – ein Detail, das ganz amüsant, aber irgendwie überflüssig ist. Ist doch die ganze Inszenierung in ihrer Darstellung eine Abweichung vom Ursprünglichen.

Immer wieder bombardieren die beiden das Publikum auch mit Details aus der Pflege: Franzbranntwein, Mirfulan-Salbe, Inhalieren, Pflegebetten etc. etc. Die abgestumpfte, zynische Sprechart von Christian Löber verbreitet dabei im Saal ein Gefühl von Scham, Unbehagen und fast Ekel. Und macht auf diese Weise deutlich: Die Gesellschaft kann nicht die Augen verschließen vor dem Tod, auch wenn sie es gerne wollte. „Krankheit ist Erniedrigung“, sagt er.

Unweigerlich schwingt mit: Wer Andere pflegt – ob privat oder beruflich – wird müde oder überfordert. So auch Georges, der sich anfangs noch hingebungsvoll um jede Version seiner Anne kümmert, jedoch zunehmend hilfloser wirkt. Panisch versucht, alles aufzuwischen und es Anne bequem zu machen. Ein Aspekt, der den persönlichen Notstand auf einen gesellschaftlichen erweitert: Schauen wir kollektiv weg, wenn’s hässlich wird? Schieben wir Kranke lieber an Pflegepersonal ab? Und warum tun wir nichts gegen den drohenden Pflegenotstand in unserer Gesellschaft?

Das Paar schottet sich immer weiter von der Außenwelt ab. Besonders bildlich wird dies in den Szenen zwischen Georges und der gemeinsamen Tochter. Anfangs stehen sie im Dialog weit voneinander entfernt, später sehen sie sich nicht einmal mehr an. Ein kleines Detail, welches, wie viele andere, die Inszenierung zu einem runden Gesamtwerk macht. Die Tochter ist es auch, die schließlich die Frage stellt, die sich bei all dem gezeigten Elend aufdrängt: „Und wie soll‘s jetzt weitergehen?“

Ja, wie soll es weitergehen? Anne bittet Georges nie um den Tod. Aber sie macht deutlich, dass sie sterben will. Ist es dennoch übergriffig von ihm, ihr Leiden schließlich zu beenden? Ist es der Beweis wahrer Liebe? Oder ist es seine Verzweiflung, weil er dieses Leben nicht mehr führen kann? Das Stück beantwortet diese ethisch viel diskutierten Fragen nicht abschließend. Aber warum sollte es das auch. Gibt es denn dafür ein Richtig und Falsch, ein Schwarz und Weiß? Ist es nicht viel mehr die private Entscheidung eines jeden!

Auf den ersten Blick sehen wir ein Stück mit hervorragenden schauspielerischen Leistungen, allen voran von André Jung, der die Verzweiflung und das Ermüden Georges unfassbar nahbar macht. Auf den zweiten Blick sehen wir ein Stück, das beispielhaft beweist, was Theater gesellschaftlich relevant macht und dadurch definitiv die Nominierung für den Theaterpreis Faust verdient hat. Am Ende bleibt eine Szene besonders im Gedächtnis. Denn auch wenn wir uns mitten in Georges und Annes Geschichte befinden: Es könnte uns alle treffen.

Dies wird deutlich, als die Inszenierung aus dem Assoziativen herausfällt und wir uns schlagartig in der Realität befinden. Die Anne verkörpernden Laien-Darstellenden haben alle eine eigene Geschichte mit einer unheilbaren Krankheit, die sie mit dem Publikum teilen. Plötzlich stehen da echte Menschen mit echten Geschichten. Aus: Es könnte jeden treffen, wird: Es hat mich getroffen oder meinen Sohn oder meinen besten Freund. Und so verlassen die Zuschauenden den Saal, sichtlich gerührt von „Liebe“.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert