Mit Wiederaufnahme der Zürcher Inszenierung „Manzini Studien – ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis“ holt sich die Berliner Volksbühne René Pollesch posthum auf die Bühne. Ein oszillierender Abend mit Gravitationsmomenten.
Von Ella Rendtorff
Das, was die Welt im Innersten zusammenhält, hat einen Knacks. So wie die Menschen, die im Café Manzini in Berlin-Wilmersdorf an ihrem Dessertwein nippen. Oder das Publikum in Shakespeares „Sommernachtstraum“, das nach der ersten Szene schon vergessen hat, worum es eigentlich geht, aber unbedingt noch bleiben will.
Er tritt als feiner Riss in der Wand auf, als Sprung in der Schüssel, als Lücke im System des Gebrauchtwarenladens namens Alltag. Nicht auf den ersten Blick sichtbar, aber doch irgendwie da: der Knacks, der sich gedanklich und physisch durch das Leben zieht und dabei erstmal unbemerkt bleibt. Oder bewusst ignoriert wird, so wie die Tasse in der hintersten Reihe des Geschirrregals mit eingeschlagenem Henkel. Aus dem Auge, aus dem Sinn – das gilt vielleicht für die Küchenordnung, nicht aber für René Polleschs Theaterabend. Uraufgeführt am Schauspielhaus Zürich, holt die Berliner Volksbühne „Ich weiß nicht was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis“ nach dem Tod des gefeiertenRegisseurs nun an das Haus, welches er knapp drei Jahre lang als Intendant geleitet hat. Unter dem Übertitel „Manzini-Studien“ dichtet und verdichtet Pollesch Textfragmente, Monologe und philosophische bispragmatische Diskurse, die da anfangen, wo das Ende oft nicht absehbar ist: mitten im Leben und auf der Bühne.
„Warum also nicht einfach mal mit dem Ende beginnen, mit der Panik anfangen?“, fragt die Figur M (Martin Wuttke) seine beiden Mitspielerinnen K (Kathrin Angerer) und R (Marie Rosa Tietjen). Dazu müsste man aber zumindest wissen, wann ein Moment vorbei ist, ad acta gelegt, nicht mehr überlebensfähig, also am Ende. Wann ist Zeit für den Applaus, wenn die Shakespeare-Inszenierung bereits sechs Stunden geht, oder zehn – oder waren es doch schon ganze vierundzwanzig? Da sind sich die Spielenden in Polleschs jeglichem Zeitmaß trotzendem Stück nicht mehr so sicher. Zu viel Nebel verhüllte den Zauberwald und zu viele Zigaretten hat M alias Martin Wuttke inzwischen schon geraucht. Aber ob nun überhaupt der Zauberwald der Ort war, dem das Spieler:innen-Trio in „Sommernachtstraum“-Kostümen entsprungen ist? Auch das schwebt im Ungewissen. Schließlich lautet der Titel des Abends: „Ich weiß nicht was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis“.
Der Preis, den man für das Leben zahlt, ist hoch. Vor allem in Zeiten, die dem Niedergang geweiht zu sein scheinen und in Momenten, in denen sich alles dem Ende zuneigt. Auf Shakespeares „Sommernachtstraum“ bezogen mag das zwar nicht allzu bedauernswert sein, bezogen auf das Leben wohnt dem aber doch eine gewisse Tragik inne, oder nennen wir es: ein Knacks. Bei aller Ratlosigkeit, die in den Sackgassen des Abends schlummert, bahnen sich die Spieler:innen allerdings immer wieder Wege in die Freiheit, finden zueinander und glänzen in ihrer Performance als ein eingespieltes Trio. Dabei spielen sich M, K und R aber auf der Bühne auch mit Leidenschaft gegenseitig aus, stoßen sich in Abgründe und zeigen dann, nicht ohne eine Pollesch-typische Filmreferenz, mit dem Finger aufeinander: „Du bist ein Anschlussfehler!“
Die Gefahr, den Anschluss zu verlieren, besteht auch für die Zuschauenden. Wer einen roten Faden sucht, der oder die stößt immer wieder auf Brüche im Gefüge der Narration, fast meint man es demonstrativ knacksen zu hören. Trotz (oder vielleicht gerade wegen) seiner assoziativen Gedankensprünge entwickelt der Bühnentext in Polleschs dramaturgischer Handschrift einen Sog, dem man sich gar nicht mehr entziehen möchte. Die eigenartig verklausulierte, aber doch poetische Sprache bringt einen humoristischen Schwung mit sich und bleibt dabei nicht an der Oberfläche hängen. Ob es da die riesige Affenhand, die in der ersten Hälfte der Inszenierung aus dem Bühnenhimmel nach unten schwebt, als popkulturellen Kunst-Griff überhaupt braucht? Aber spätestens nach einem sprachlich wie körperlich akrobatischen Monolog von Martin Wuttke, der erst „aufgespannt zwischen Daumen und Zeigefinger“ des King-Kong-Affen endlich zur Ruhe findet, fügt sich das gigantische „Partialobjekt“ dann doch in die Stilistik des Abends ein. Denn das, was hier verhandelt wird, nimmt sich an den richtigen Stellen in seiner Ernsthaftigkeit selbst auf den Arm. Oder bildlich gesprochen: die Selbstironie liegt auf der Hand.
Dass sich Witz, Theater über Theater und philosophische Tiefe nicht widersprechen müssen, beweist dieser Abend bis zur letzten Szene. Dem Applaus zufolge scheint das auch das Publikum in der Volksbühne so zu sehen. „Aber klatschen Sie nicht zu laut“, mahnt Kathrin Angerer bereits an früherer Stelle im Stück, denn „die Welt ist sehr alt – sie könnte einen Knacks bekommen.“