Auf einem Wahnsinns-Trip durch München: Bastian Zimmermann. Foto: Judith Buss
Münchener Biennale: Nico Sauer schickt sein Publikum in „RÜBER“ mit einem Phantom der Straße durch die Stadt. Das ist so verwirrend wie lustig.
Von Leon Frei
Kennen Sie das? Sie fahren gemütlich mit 160 Sachen auf der Mittelspur der Autobahn und merken, wie sich von links hinten ein Auto langsam in den Rückspiegel schiebt. Wenn Sie beide auf gleicher Höhe sind, schauen Sie, warum auch immer, in den Überholer-Wagen. Und merken, dass der Beifahrer dort im gleichen Moment zu Ihnen hinübersieht. Ihre Blicke treffen sich ein paar Millisekunden zu lang. Und Sie haben das Gefühl, dass Sie sich gegenseitig in die Seelen geschaut haben.
Beim Auto-Musiktheater „RÜBER“, auch „A traffic opera“ genannt und bei der Münchener Biennale zu sehen, überträgt der Komponist und Regisseur Nico Sauer nun diesen Effekt, diese seltsam emotionale Verbindung von Fremden in Fahrzeugen, in einen musikalischen Schwarm-Rausch.
Das Publikum, bestehend aus drei Personen pro Aufführung, wird auf der Rückbank eines gelbbespritzten BMW durch Haidhausen kutschiert. Über eine Netzverbindung wird im Autoradio von außen Live-Musik eingespielt. Da fährt man beispielsweise an einer Klarinettistin vorbei, deren Töne sich zu Keyboardklängen gesellen, die von einer Musikerin auf der anderen Straßenseite zugespielt werden. Ein paar Ecken weiter steht ein Baustellenarbeiter mit einer kleinen Trommel (Bonk, Bonk!), dann eine junge Frau im Anzug, deren Gesang per Mikrofon in das Auto gebeamt wird. Das Auto wirkt wie ein Ton-Magnet. Je näher man an einem Instrument vorbeifährt, desto lauter wird es.
Alle sind gelb. Gelber Anzug, gelbe Warnweste oder gelb-besprenkelt wie das Auto. Ein gelber Lieferando-Fahrer fährt dem BMW auf einem E-Scooter voraus und weist den Weg.
Vor den drei, sich immer wieder fragende Blicke zuwerfenden Insassen auf der Rückbank, sitzt ein Chauffeur, das „phantom of the road“, der genauso aussieht, wie man sich Morton mit dem goldenen Rolls Royce aus den Drei Fragezeichen vorstellt. Blass und schwitzig mit Uniform, Mütze und weißen Handschuhen. Auf den Beifahrersitz steigen immer wieder andere gelbmarkierte Musiker und Musikerinnen zu und wieder aus, mal reden sie, mal spielen sie ihre Instrumente, mal sitzen sie schweigend da. Die Story scheint eine Art Verfolgungsjagd zu sein, kurz wird man sogar Zeuge eines Überfalls, wo die eine den anderen mit gelber Galle aus einer Wasserpistole bespritzt.
So wuselig diese Beschreibungen auch wirken mögen: Genauso war es. Und die Musik dazu ebenfalls. Sie klingt in etwa wie das, was man in einem Clown-Auto hören würde. Viele wilde, karussellartige, chaotische Melodien und Texturen, die ineinander gleiten, sich überlappen, dazu verzerrter Gesang und Sprache. Auf diese Weise bietet die Musik selten genug Boden, auf dem ein Radiohörer oder ein Fan von klassischen Musikstrukturen ein zusammenhängendes Stück finden würden.
Trotzdem macht das Musiktheater „RÜBER“ eine Menge Spaß. Es gibt viel zu entdecken, hinter jeder Straßenecke, die man erreicht, könnte ein neues Instrument, ein neues Performance-Bruchstück versteckt sein. So kann man auch viel verpassen. Und viel vermuten und fragen. Aber das ist auch typisch für die Münchener Biennale. Musiktheater zu zeigen, dass so abstrahiert ist, dass es einen manchmal verrückt machen kann, aber dadurch auch viel Raum für persönliche Assoziationen lässt. „RÜBER“ bringt das auf den Punkt. Es macht einen verrückt. Aber lässt man sich auf das Spiel ein, auf diesen semantischen freien Fall, macht es Spaß!
Höhepunkt der Show: ein offener, wackelnder Sixt-Lieferwagen vor der Kirche am Johannisplatz, in dem eine Pole-Dancerin tanzt und der Bauarbeiter von vorhin wild auf einem E-Drumset rumholzt. Dazu: Klarinette im Hauptauto und Keyboardsounds aus der Tram vorne. Alles zusammen: wildes Gerumpel.
Vor der Kirche sitzen drei Jugendliche, die gehören mit Sicherheit nicht dazu und wollen dort ihre frisch gekaufte Pizza essen. Sichtlich verwirrt von dem Bus voll gelber Musiker, dem gelben Lieferando-Fahrer auf dem E-Scooter, der Poledancerin und dem E-Drumset, schaut einer der drei in den gelb-bespritzten BMW. Für einen kurzen Moment treffen sich unsere Blicke. Und teilen die amüsierte Verwirrung.