Es war eine Lüge


Was ist Realität, was Simulation in „WoW – Word on Wirecard“ an den Münchner Kammerspiele mit Stefan Merki (oben im Video). Foto: Gabriela Neeb

„WoW – Word on Wirecard“ an den Münchner Kammerspielen: Der Crash eines Dax-Konzerns als fesselndes Bühnenspektakel – real und doch nicht von dieser Welt.
Von Marleen Uebler

Schauplatz: ein Wirecard-Büro, Aschheim bei München. Zeitpunkt: 36 Stunden, bevor Wirecard die Börse gecrasht hat. Vier Arbeitsplätze mit Bildschirmen und orangenen Tischlampen. Es hängen kleine Zettel an den Bildschirmen, es liegen Unterlagen und Blöcke bereit, Telefone, persönliche Gegenstände. Stil: Retro-Chic der Achtzigerjahre, wiederbelebt in den Zwanzigern des neuesten Jahrhunderts. Es gibt einen Getränkeautomaten in der Ecke, dort stehen auch Pflanzen bereit, Sitzgelegenheiten. Ein Aufzug führt in den Raum. Und so beginnt das Drama, in einem Büro, einer Firma namens Wirecard. Vier Mitarbeiter:innen sitzen an ihren Tischen, sie arbeiten. So wie immer. Im Nebenraum, abgeschottet durch Jalousien, tigert der CEO. Er ist ein klassischer Geschäftsmann, gegelte Haare, Anzug. Und er scheint besorgt, er telefoniert. Vor dem Konferenzraum ist ein Sekretär, der gelangweilt dasitzt. Ab und zu geht er ans Telefon, wimmelt ab: „Ja, hab ich verstanden. Very urgent Business.“ Die Mitarbeiter:innen ahnen längst schon etwas. Die Zahlen stimmen nicht, sie werden immer unruhiger. Melanie, die älteste, in blauer Bluse und mit konservativem Haarschnitt steht auf. „Warum ist er nicht da? Wo sind sie, die „Macher“?“ Melanie scheint als einzige das Unmögliche in Betracht zu ziehen: Wirecard war eine Lüge.

Es knallt, dröhnt, vibriert. Plötzlicher Schnitt, die Bühne wackelt, Lichter sind gedimmt. Chaos – ja oder nein? Drei große Bildschirme über der Bühne zeigen „WOW“, in blinkenden Schriftzügen der Achtzigerjahre-Gameboys. Die Mitarbeiter:innen sind plötzlich keine mehr, sie erheben sich, wandeln über die Bühne, tanzen, wabern. Gehen, laufen. Stimmen überlagern sich, die Musik ebbt ab und schwillt wieder an. Und Schnitt.

Nächste Szene: Kamerafrauen filmen, denn wir sehen die Schauspielenden nur schlecht im Konferenzraum auf der Bühne. Aber auf den Bildschirmen sehen wir jedes Detail. Jetzt sind sie andere Menschen, sprechen über andere Dinge. Ein Film, über eine Firma, die eine perfekte Simulation der Welt erschaffen hat. Sie streiten sich, der Film läuft nicht. Die Produktion soll gestoppt werden. Fasziniert verfolgen wir den Live-Dreh auf der Bühne, saugen die Details des Bühnenbildes in uns auf. Während die Aufmerksamkeit auf den Bildschirmen liegt, spielen die anderen immer noch ihre Rollen, fahren mit dem Aufzug. Lesen, sind am Handy. So richtig verstehen wir noch nicht, was der Film mit der ersten Szene zu tun hat.

Plötzlich eine Explosion. Jetzt sieht man an der hintersten Wand der Bühne eine Explosion. Aber durch das clevere Bühnenbild wirkt es so, als wäre die Explosion draußen und man würde sie durch ein Fenster sehen. Die Kamerafrauen filmen an unterschiedlichen Orten der Bühne. Im rechten Raum neben dem Aufzug, hinter der Bühne, im Aufzug. Alle bewegen sich langsam, schnell, dann wieder langsam. Die Musik dröhnt so laut, die Bilder sind so intensiv, es ist anstrengend, alles zu sehen. Gleichzeitig drängt sich jedes Details so auf, dass man nicht anders kann als hinzusehen. Es ist so brillant cinematisch, so ästhetisch vollkommen und gleichzeitigt so überladen, dass nur mithilfe der Kameras alles gesehen werden kann. Und trotzdem ärgere ich mich über jedes Detail, dass ich verpasse.

Langsam erzählt „Word on Wirecard“ seine Geschichten, die ineinanderfließen. Einmal sind wir in Wirecards Büro, dann wieder beim Filmteam, dann in einer ganz anderen Realität. In der, in der Simulation und Realität sich miteinander vermischen. Manchmal glaube ich, verstanden zu haben, was nun wirklich die „echte“ Reihenfolge der Erzählstränge ist. Dann verliere ich wieder den Faden. Es ist kompliziert, aber Lukasz Twarkowski und Anka Herbuts Stück fesselt. Der Live-Dreh bringt das detailverliebte Bühnenbild perfekt zur Geltung, die Schauspieler:innen – Sebastian Brandes, Tanya Kargaeva, Elias Krischke, Anna Gesa-Raija Lappe, Alina Sokhna M‘Baye, Stefan Merki, Annette Paulmann, Leoni Schulz und Daniel Wagner – wechseln ihre Rollen schnell und präzise. Sie erzählen mit so viel Inbrunst und doch mit so unscheinbaren Gesten, dass wir uns nicht sicher sind, ob sie nicht vielleicht doch einfach in einer Simulation leben.

Loben kann man vieles: Den raumgreifenden Sound, der die Szenen von der Bühne wäscht, wie eine Flut. Die Kostüme, die gewechselt werden, je nach Erzählstrang. Die Kamerafrauen, die unauffällig jede Szene begleiten. Nur die Handlung, die sich in Grundzügen verstehen lässt, bleibt rätselhaft. Was ist nun echt? Was ist Simulation? Identifizieren kann ich nur eine Person. Stiller heißt einer, der in einer Simulation gefangen zu sein scheint und zwischen seinem „real“ und „simuliert“ zu wechseln scheint. Aber auch er erklärt sich uns nicht. Stattdessen zieht die Handlung zahlreiche Referenzen zu „Matrix“, Fassbinders „Welt am Draht“ und „Raumschiff Enterprise“. Szenen sind in sich geschlossen, dann wieder offen. Witze werden gemacht, es wird gelacht. Und immer wieder wird die Frage gestellt. Sind wir real? Oder doch nur simuliert?

Die Inszenierung endet dreimal, für jede Erzählung ein eigenes Ende. Es knallt, dröhnt. Sie feiern eine Party, die so real erscheint, aber eigentlich nur Nebel, Blaufilter auf den Kameras und untermalt mit lautem Techno ist. Eigentlich doch wie in echt.

Irgendwann sitzen alle wieder still an ihren Tischen. Szene wie zu Beginn des Stückes, Kostüme wie am Anfang. Ich erkenne Melanie wieder. Und auf den Bildschirmen die andere Welt, die andere Erzählung. Überlagerte Realität, man fühlt sich, als würde man hier und jetzt einen „Matrix“-Moment miterleben und durch einen Bildschirm in die Simulation blicken können. Oder in die Realität?

Worum es geht: Wirecard oder einen Filmdreh? Oder ist es eine „Matrix“-Liebesgeschichte? Ein Sci-Fi-Film? „Uncanny Valley“ bezeichnet das Unwohlsein, wenn man etwas sieht, das beinah real genug ist, um lebendig zu sein. Aber es nicht ist.

Applaus tost, als der letzte Akt gespielt ist. Brillant, denke ich mir. Was habe ich da gerade erlebt?


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert