Liv Stapelfeldt und Janek Maudrich bauen ein Haus. Foto: Konrad Fersterer
Münchner Volkstheater: Der Regisseur Mathias Spaan bringt mit vier tollen Schauspieler*innen inszenierte Wirklichkeit auf die Bühne, entlehnt aus Tom McCarthys spannendem Roman „8 ½ Millionen“.
Ohrenbetäubend laut dringen die Bässe durch die Körper der Zuschauenden. Der Boden vibriert, die Stühle vibrieren, das Bühnenbild vibriert, der Kopf vibriert. Benommen von dem Lärm schauen alle gebannt auf die Bühne. Fünf graue Betonplatten, die aussehen, als hätte man sie aus einem Hochhaus gerissen, hängen – jede einzeln – von der Decke der Bühne. Während sie sich herabsenken, fährt der Boden, auf dem gerade noch die Schauspieler*innen gespielt haben, nach oben. Der Bühnenraum verkleinert sich zu einem Schlitz, wie ein Auge, das sich schließt.
„8 1/2 Millionen“, gespielt von vier Schauspieler*innen: Jan Meeno Jürgens, Steffen Link, Janek Maudrich und Liv Stapelfeldt. Vier Schauspieler*innen, die alle die gleiche, aber auch alle eine eigene Rolle spielen. Die ihre Rollen im Sekundentakt annehmen und abgeben können. Die alle eins sind und doch alle viele. Kostüme, die anfangs noch dazu dienen, Personen zuordnen zu können, vermischen sich wie die Stimmen der Schauspielenden, immer wieder während der Inszenierung. Die perfekte Synchronität des Sprechtextes lässt sie als Einheit dastehen. Im selben Moment bricht einer der Gruppe aus der Einheit aus, wie ein Molekül, welches sich abspaltet. Alle sind einer und einer ist alle.
Der „Eine“ ist der Protagonist des Romans „8 1/2 Millionen“ von Tom McCarthy. Er hat durch einen Unfall eine Abfindung von achteinhalb Millionen Pfund bekommen und baut sich seine Welt so, wie sie in seiner letzten Erinnerung vor seinem Unfall präsent ist. Mehr ist da nämlich nicht. Nur diese eine Erinnerung von einem Mehrparteienhaus, in dem eine alte Frau den Müll runterbringt, ein Tüftler an seinem Motorrad rumschraubt und ein Mann an seinem Klavier übt. An dieser, in seinem Kopf detailreich eingebrannten Erinnerung will der Protagonist festhalten – koste es, was wolle.
Die Adaption des Romans am Volkstheater München in der Regie von Mathias Spaan gleicht wahrscheinlich dem Innenleben des Kopfes des Protagonisten: Die Handlung ist viel, das Bühnenbild ist detailreich, insgesamt beeindruckend und erdrückend. Mit der Abfindung, die er bekommen hat, beauftragt der Mann eine Agentur, sich mit der genauen Kopie, dem „Nachspiel“ seiner letzten Erinnerung auseinanderzusetzen. Es wird ein Haus gekauft, welches genau aussieht wie in der Erinnerung in seinem Kopf. Es werden Akteur*innen bei einem Casting ausgewählt, die sich genau so verhalten sollen, wie in der Erinnerung in seinem Kopf, und es werden Katzen gekauft, die auf dem Dach des Hauses positioniert werden, genau wie in der Erinnerung in seinem Kopf.
Immer wieder wird die Szene aus dem Kopf des Protagonisten durchgespielt. Immer wieder ist ein Detail nicht präzise genug: Die alte Frau läuft nicht langsam genug, der Besen (gespielt von einer Person) ist nicht Besen genug und der Pianist baut nicht genug Fehler in sein Stück ein. Dies erfordert von den Schauspieler*innen höchste Körperkontrolle. Immer wieder korrigiert sie der Protagonist: „Nochmal, schneller, nein, nochmal, mehr Gefühl, von vorne, weiter.“ Mit ihren Körpern spielen sie Bewegungsabläufe acht bis zehn Mal hintereinander durch. Immer wieder verändert durch ein kleines Detail.
Die vier Volkstheater-Schauspieler*innen teilen sich nicht nur die Rolle des Protagonisten, sondern auch andere Rollen, wie die des Casting-Direktors oder der Regieassistenz. Am Anfang fällt es noch leicht, die Personen voneinander zu unterscheiden und der Handlung des Stückes zu folgen. Doch umso öfter sich die Szene wiederholt, umso mehr verliert man als Zuschauende den Überblick. Wer spielt wen? Wer ist diese neue Rolle? Um welche Szene handelt es sich gerade? Immer öfters kommen auch Stimmen aus dem Off dazu. Sie sprechen zu den Schauspielenden. Geben ihnen Anweisungen. Erklären den Kontext. Immer mehr passiert. Rollenwechsel. Szenenwechsel. Kostümwechsel.
Doch in dieser Inszenierung von „8 1/2 Millionen“ gibt es kein zu viel. Oder besser gesagt, es gibt zu viel, doch das ist nicht schlimm. Die Zuschauenden sind so von der Schauspielleistung beeindruckt, dass ihre Augen sich kaum von der Bühne lösen. Ihre Blicke verfolgen das Geschehen auch, ohne es zu verstehen. Die Schauspieler*innen, wie Magnete, von denen man sich nicht lösen kann.